Mein Kind antwortet nicht auf Deutsch

Wenn Kinder im Ausland nicht wie erhofft einfach irgendwann von allein anfangen, in ihrer Zweitsprache Deutsch zu sprechen, schleicht sich insbesondere beim deutschsprachigen Elternteil schnell das Gefühl ein, etwas falsch gemacht oder versäumt zu haben. Vor allem dann, wenn die Zwei- oder Mehrsprachigkeit bei anderen Kindern so mühelos zu funktionieren scheint. Klappt es etwa nur bei meinem Kind einfach nicht mit dem Deutschsprechen? Ist es sprachlich einfach nicht begabt? Habe ich letztlich doch nicht genug Deutsch gesprochen? Hat sich das Zeitfenster für den Erwerb mehrere Sprachen im Kindesalter schon geschlossen?

 

Kinder dort abholen, wo sie sich gerade befinden

Bevor man jedoch vorschnell Schlüsse zieht, gilt es, typische Verhaltensmuster von Kindern genauer zu betrachten, die dem Deutschsprechen und -lernen vielleicht gerade etwas im Wege stehen. Viele Kinder können bereits viel mehr Deutsch als sie selbst denken, demensprechend mangelt es ihnen oft an Selbstbewusstsein, Deutsch als ihre Sprache anzunehmen und aktiv einzusetzen. Andere wiederum verstehen so gut wie alles, wissen das auch, aber es fehlt ihnen die Motivation, ein paar innere Hürden zu nehmen und den passiven deutschen Wortschatz für aktives Sprechen zu nutzen. Und natürlich gibt es auch Kinder, die eine zweite Sprache eben nicht einfach automatisch aufsaugen, sondern etwas mehr Hilfestellung benötigen. Prinzipiell ist es jedoch nie zu spät, Kinder dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden, den Kurs neu zu bestimmen und die Reise des gemeinsamen Deutschlernens fortzusetzen.

Fehler wegstecken können

Beginnen wir mit der Frage des fehlenden Selbstbewusstseins in Sachen Deutsch bzw. der Bereitschaft, Fehler zu machen und diese wegstecken zu können. Es ist ein typisches Verhaltensmuster von Kindern (und auch Erwachsenen), sich nicht vor anderen bloßstellen zu wollen. Viele Kinder reden rein prophylaktisch nicht Deutsch, weil sie keine Fehler machen wollen, vor allem nicht vor anderen, die perfekt Deutsch sprechen. Andere verwenden nur das, was sie bereits seit langer Zeit sicher beherrschen, trauen sich aber nie aus ihrer persönlichen Komfortzone heraus.

Anders als beim Erlernen eines Musikinstruments oder einer Fremdsprache in der Schule gibt es für zwei- oder mehrsprachige Kinder keine bewusst wahrgenommene Anfängerphase beim Deutschlernen, in der man wie alle anderen Fehler macht und sich langsam steigert. Stattdessen sehen sich zweisprachig aufwachsende Kinder beim Heranwachsen aber immer stärker damit konfrontiert, mit den weitaus besser Deutsch sprechenden Cousins in Deutschland oder auch dem schnell und fließend Deutsch sprechenden Elternteil zu Hause mitzuhalten. Man sollte auch nicht unterschätzen, dass Kinder oft merken, dass sie Fehler machen oder das richtige Wort nicht finden, diese aber nicht selbst korrigieren können, weil ihnen dazu das Handwerkszeug fehlt.

Viele Kinder müssen erst einmal viel Selbstvertrauen aufbauen, sodass sie mit ihrer Unsicherheit umgehen lernen und sich generell erlauben, auch einmal Fehler zu machen. Viel positive Rückmeldung und Lob sind daher extrem wichtig. Auch der Kontakt zu anderen Kindern, die Deutsch als Zweitsprache im Ausland lernen und nicht unbedingt nur zu Kindern in einem deutschsprachigen Land, die Deutsch als Erstsprache erworben haben, kann den entscheidenden Durchburch bringen.

Um Kinder dort abzuholen, wo sie beim Deutschlernen gerade sind, kann es eine gute Lösung sein, zunächst nur „fertig formuliertes“ Deutsch zum Nachsprechen oder Antworten anzubieten. Das Freischwimmen von diesen sprachlichen Vorlagen erfolgt meist später, wenn genügend Vertrauen in die eigenen Sprachkenntnisse da ist und sie sich vor möglichen Fehlern nicht mehr fürchten.

“Nein” richtig interpretieren

“Kannst du bitte auf Deutsch antworten?” “No, I don`t want to.” Wenn jüngere Kinder, die eigentlich schon gut Deutsch sprechen, nicht auf Deutsch antworten wollen, sollten wir das immer auch in Relation zu ihrer aktuellen Entwicklungsstufe betrachten. Vielleicht sagen sie nämlich nicht nur zum Deutschsprechen “Nein”, sondern auch zu vielen anderen Dingen?

“Nein” ist ein starkes Wort, das Kinder schon sehr früh verstehen und das eine gewisse Kraft ausübt. Denn es ist in der Regel das erste Wort, das sie von uns hören, wenn wir ihr Verhalten korrigieren wollen. Selbst wenn wir es sehr sanft sagen, spüren sie doch die Macht, die hinter diesem Wort steckt. Wenn Kleinkinder autonomer werden, greifen sie daher oft instinktiv zu diesem starken Wort “Nein”, um sich selbst zu behaupten. “Das bin ich.” “Ich denke anders als du.” Für kleine Kinder ist das Wort “Nein” also oft eher ein Gefühl oder Bedürfnis als eine konkrete Aussage. In vielen Entwicklungsphasen mag es so aussehen, als ob Kinder einfach trotzig sind oder alles doof finden. Aber eigentlich vollenden sie wichtige Stufen des ganz natürlichen Heranwachsens.

Und sehr oft bedeutet “Nein” auch mehr: “Ich bin mir nicht sicher”, “Ich bin überwältigt”. Alle Kinder kämpfen um Selbstregulierung oft bis ins Erwachsenenalter hinein. Erst mitte Zwanzig ist der Frontallappen im Gehirn (präfrontale Kortex) ausgereift und Kinder haben die Fähigkeit entwickelt, Gefühle der Überwältigung zu kontrollieren und “vernünftig zu sein”.

Als Eltern verstehen wir solche “Neins” jedoch meist rein auf der Sachebene und reagieren entsprechend heftig darauf. “Er/Sie will kein Deutsch sprechen” Hilfreicher ist es, das “Nein” ersteinmal nur als Gefühl der Unsicherheit und mit viel Verständnis zur Kenntnis zu nehmen. Es gibt viele Wege, das Deutsch sprechen herauszulocken, ohne in tägliche Machtkämpfe mit dem eigenen Kind zu verfallen. Oft hilft auch einfach, abzuwarten, bis eine “Trotzphase” abgeschlossen ist (und bevor die nächste beginnt!).

Wissensstand versus Wortschatz

Kinder sind wissbegierige Weltentdecker und reden gerne darüber – und zwar ununterbrochen. Oft haben sie das Bedürfnis, jedes Detail zu erfragen und sich immer differenzierter auszudrücken. Vor diesem Hintergrund wird es verständlicher, dass sich viele Kinder mit der Zunahme ihres Detailwissens eher ungern der schwächer entwickelten deutschen Sprache bedienen, da diese ihr Mitteilungsbedürfnis einfach behindert. Es ist aus ihrer Sicht nicht zufriedenstellend, mit weniger Wortschatz auszukommen, wenn sie doch so viel zu sagen und erfragen haben.

Langfristig löst sich dieses Problem, wenn die Wortschatzentwicklung der schwächeren Sprache irgendwann nachzieht und wieder mit dem in der dominanten Sprache erworbenen Wissen mithalten kann. Zwischenzeitlich kann es jedoch hilfreich sein, Zeit mit anderen Kindern zu verbringen, die ebenfalls Deutsch als schwächere Sprache sprechen und wenn Deutsch die einzige Verständigungsmöglichkeit ist. Dann ist die Bereitschaft besonders eloquenter Kinder größer, sich auf eine geringere sprachliche Ebene zu begeben. Sie können ihre eigenen Unzulänglichkeiten während des Deutschsprechens besser akzeptieren. Gibt es ein paar aktuelle Lieblingsthemen, sollten sich möglichst viele Deutschaktivitäten darauf beziehen, sodass der deutsche Wortschatz schnell aufgebaut wird und dem Wissensstand gerecht wird.

Aufwand in Kauf nehmen

Neben den Vielsprechern gibt es aber auch die in sich ruhenden Kinder, denen die Kommunikation mit anderen einfach nicht so wichtig erscheint. Ein gutes Beispiel sind Jungs, die stundenlang nebeneinander und sogar miteinander Lego spielen, aber sich dabei recht wenig unterhalten. Sie kommen auch ohne viele Worte aus, egal ob in der dominanten Umgebungssprache oder in Deutsch als Zweitsprache. Sprache ist für sie ein Mittel zum Zweck, je weniger man einsetzen muss, umso besser oder bequemer. Der Aufwand, in zwei verschiedenen Sprachen zu sprechen, wenn doch die bereits stärkere Sprache bereits alle Wünsche und Bedürfnisse befriedigt, erscheint diesen Kindern einfach unverhältnismäßig.

Auch hier kann es helfen, eine Situation zu schaffen, in der Deutsch die einzige Verständigungsmöglichkeit ist. Vermutlich werden die meisten Kinder irgendwann doch anfangen, Deutsch zu sprechen, wenn auch mit minimalem Anspruch. Es geht ihnen einfach darum, verstanden zu werden. Je mehr sprachliche Erfolge diese Kinder erzielen, desto geringer wird der damit verbundene Aufwand empfunden, sodass auch sie sich nach einer gewissen Zeit zu guten Zweisprachlern entwickeln werden, aber eben auf ihrem persönlich als ausreichend empfundenen Sprachniveau.

Fehlender Bezug

Neben typischen Verhaltensmustern von Kindern trägt natürlich auch das soziale Umfeld maßgeblich dazu bei, wie groß die innere Bereitschaft ist, Deutsch zu sprechen und vorhandene Kenntnisse auszubauen. Gibt es gute und regelmäßige Beziehungen zu Freunden und Verwandten in der deutschsprachigen Heimat eines Elternteils, ist der natürliche Spracherwerb meist gut flankiert. Bestehen zudem noch Kontakte zu anderen deutschsprachigen Familien vor Ort, lernen Kinder schon früh, sich mit vielen verschiedenen Personen auf Deutsch zu verständigen. Fehlen solche Umfeldfaktoren jedoch, wird es von Kindern oft als wenig attraktiv empfunden, Deutsch zu lernen. Fernsehen und Videos auf Deutsch können fehlende soziale Kontakte dann kaum wettmachen. Viel besser ist es, deutschsprachige Gruppen oder eine Samstagsschule zu besuchen, um andere Deutsch sprechende Kinder kennenzulernen und dem Deutschlernen wieder mehr Sinn zu verleihen.

Auch der Umzug in ein anderes Land und damit die Notwendigkeit, eine weitere Umgebungssprache – vielleicht zusätzlich zur Familiensprache – zu lernen, kann die deutsche Sprache schnell auf den dritten oder gar vierten Platz verdrängen. Die Herausforderung für ein Elternteil, die deutsche Sprache dennoch aufrecht zu erhalten, wird dann um ein Vielfaches größer. Längere Abwesenheit des deutschsprechenden Elternteils kann ebenfalls die Sprachentwicklung der Kinder schnell beeinträchtigen. Oft ist es dann an der Zeit, eine individuelle, realistische Strategie zu entwickeln.

Genau hinschauen

Alles in allem nehmen zahlreiche Faktoren Einfluss darauf, wie Kinder ihre deutschen Sprachkenntnisse anwenden und weiterentwickeln. Genau hinschauen, Verhaltensmuster und Entwicklungsphasen als solche erkennen und darauf reagieren, den Bedürfnissen des Kindes jederzeit gerecht werden – dann kann sich die Zwei- oder Mehrsprachigkeit im Zeitverlauf auf vielfältige Art und Weise weiterentwickeln.

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